EIN UNERWARTETER VERBÜNDETRE
Roran
hatte schon den Hammer aus dem Gürtel gezogen und war halb
aufgesprungen, als er den Namen seines Vaters hörte. Nur das
verhinderte, dass er durchs Zimmer hechtete und Jeod bewusstlos
schlug. Woher kennt er
Garrow? Neben ihm sprangen Loring und Birgit auf und
zückten ihre Messer und selbst Nolfavrell hielt seinen Dolch in der
Hand.
»Du bist es, Roran, nicht wahr?«, fragte
Jeod leise. Die Waffen schienen ihn nicht im Geringsten zu
erschrecken.
»Woher wisst Ihr das?«
»Weil Brom und Eragon hier waren. Du siehst
aus wie dein Cousin. Als ich deinen und Eragons Steckbrief sah,
wusste ich, dass du geflohen bist. Aber«, Jeods Blick wanderte zu
den drei anderen, »ich hätte nie gedacht, dass du gleich ganz
Carvahall mitbringen würdest.«
Verblüfft sank Roran in den Sessel zurück
und legte den Hammer auf die Knie, wo er jederzeit griffbereit war.
»Eragon ist hier gewesen?«
»Ja. Und Saphira auch.«
»Saphira?«
Wieder schaute Jeod überrascht. »Dann weißt
du es also nicht?«
»Was weiß ich
nicht?«
Jeod ließ ihn eine lange Minute warten. »Ich
glaube, es ist an der Zeit, dass wir die Karten auf den Tisch
legen, Roran Garrowsson, und offen über alles reden. Ich kann viele
der Fragen, die dir auf der Seele brennen, beantworten - zum
Beispiel warum das Imperium dich jagt. Aber im Gegenzug muss ich
wissen, warum ihr nach Teirm gekommen seid... warum
ihr wirklich hier seid.«
»Und warum sollten wir dir vertrauen,
Langhachse?«, wollte Loring wissen. »Du könntest für Galbatorix
arbeiten.«
»Ich war über zwanzig Jahre lang Broms
Freund, bevor er Geschichtenerzähler in Carvahall wurde«, sagte
Jeod, »und ich habe ihm und Eragon nach Kräften geholfen, als sie
unter meinem Dach wohnten. Aber da keiner der beiden hier ist, um
für mich zu bürgen, lege ich mein Leben in eure Hände. Macht damit,
was ihr wollt. Ich könnte um Hilfe schreien, aber das tue ich
nicht. Auch werde ich nicht kämpfen. Ich bitte euch bloß, mir eure
Geschichte zu erzählen und euch meine anzuhören. Danach könnt ihr
entscheiden, wie es weitergehen soll. Ihr seid in keiner
unmittelbaren Gefahr, was hindert uns also daran, miteinander zu
reden?«
Birgit fing mit einer Kopfbewegung Rorans
Blick ein. »Vielleicht versucht er bloß, seine Haut zu
retten.«
»Vielleicht«, sagte Roran, »aber wir müssen
herausfinden, was er weiß.« Er nahm den Sessel, zog ihn durchs
Zimmer, stellte ihn unter die Türklinke und setzte sich wieder
darauf, sodass niemand hereinstürmen und sie überraschen konnte. Er
zeigte mit dem Hammer auf Jeod. »Na schön. Du willst reden. Dann
lass uns reden. Fang an!«
»Es wäre besser, wenn du anfängst.«
»Wenn ich das tue und uns hinterher deine
Antworten nicht gefallen, müssen wir dich umbringen«, warnte
Roran.
Jeod verschränkte die Arme. »Dann soll es so
sein.«
Trotz seines schroffen Tonfalls war Roran
von der Gelassenheit des Händlers beeindruckt. Jeod schien sich
keine Sorgen um sich zu machen, auch wenn er ein bisschen grimmig
dreinschaute. »Dann soll es so sein«, wiederholte Roran.
Roran hatte die Ereignisse seit dem
Auftauchen der Ra’zac in Carvahall oft genug in Gedanken durchlebt,
aber sie noch nie einer anderen Person in allen Einzelheiten
erzählt. Als er es nun tat, wurde ihm bewusst, wie viel ihm und den
anderen Dorfbewohnern in kurzer Zeit widerfahren war und wie
mühelos das Imperium ihr Leben im Palancar-Tal zerstört hatte. Es
schmerzte Roran, die Geschichte vorzutragen, aber wenigstens
bereitete es ihm ein gewisses Vergnügen, Jeods unverhohlenes
Erstaunen zu sehen, als er erfuhr, wie die Dorfbewohner die
Soldaten und Ra’zac aus ihrem Lager vertrieben hatten - dann die
Belagerung Carvahalls, Sloans Verrat, Katrinas Entführung, wie
Roran die Dorfbewohner zur Flucht bewogen hatte und die
Entbehrungen während ihrer Schiffsreise nach Teirm.
»Bei den verlorenen Königen!«, rief Jeod
aus. »Das ist ja eine außergewöhnliche Geschichte. Außergewöhnlich!
Sich vorzustellen, dass du Galbatorix’ Pläne durchkreuzt hast und
sich ganz Carvahall vor den Toren einer der größten Städte des
Imperiums verbirgt!« Er schüttelte bewundernd den Kopf.
»Ja, das ist die gegenwärtige Lage«, brummte
Loring, »und sie ist bestenfalls lebensgefährlich, deshalb erklärst
du uns jetzt ganz genau, warum wir es riskieren sollten, dich am
Leben zu lassen, Langhachse.«
»Schön, dann hört -«
Jeod verstummte, als hinter Rorans Sessel
jemand an der Tür rüttelte, versuchte, sie aufzuschieben, und gegen
das Eichenholz hämmerte. Dann zeterte eine Frauenstimme: »Jeod!
Lass mich rein, Jeod! Du kannst dich nicht in deinem Käfig
verstecken!«
»Darf ich antworten?«, murmelte Jeod.
Roran gab Nolfavrell ein Zeichen, woraufhin
der Junge ihm den Dolch zuwarf. Er fing die Waffe, ging um den
Schreibtisch herum und hielt Jeod die Klinge an die Kehle. »Die
Frau soll verschwinden.«
Mit gehobener Stimme sagte Jeod: »Ich habe
jetzt keine Zeit, Helen. Ich bin in einer geschäftlichen
Besprechung.«
»Lügner! Du machst keine Geschäfte mehr. Du
bist bankrott! Komm raus und sieh mich an, du Feigling! Bist du
nicht einmal mehr Manns genug, um deiner Frau in die Augen zu
schauen?« Sie machte eine Pause, als erwartete sie eine Antwort,
dann wurde ihr Gekeife noch lauter. »Du Feigling! Du bist ein
Taugenichts, ein hirnloser Trottel, der nicht einmal einen
Schweinestall führen könnte, ganz zu schweigen von einer Reederei!
Mein Vater hätte niemals so viel Geld verloren wie du!«
Roran wand sich innerlich, während die
Beleidigungen immer schlimmer wurden. Ich
kann Jeod nicht mehr lange festhalten, wenn sie ihn weiter so
beschimpft.
»Sei still, Frau!«, brüllte Jeod
schließlich, und augenblicklich kehrte Stille ein. »Unser Schicksal
könnte sich vielleicht zum Besseren wenden, wenn du endlich deine
Zunge im Zaum halten und nicht herumfluchen würdest wie die Frau
eines Fischhändlers!«
Ihre Antwort war kühl. »Ich warte im
Esszimmer auf dich. Solltest du nicht zum Abendessen erscheinen und
dich mir erklären, werde ich dieses unselige Haus verlassen und
nicht mehr zurückkommen.« Ihre Schritte verklangen im Flur.
Als er sich sicher war, dass sie gegangen
war, nahm Roran den Dolch von Jeods Kehle, gab Nolfavrell die Waffe
zurück und setzte sich wieder auf den Sessel an der Tür.
Jeod rieb sich den Hals und sagte mit
verdrossener Miene: »Falls wir nicht auf einen Nenner kommen,
bringt ihr mich besser um, denn das ist mir lieber, als Helen
erklären zu müssen, dass ich sie grundlos angebrüllt habe.«
»Du hast mein ganzes Mitgefühl, Langhachse«,
sagte Loring.
»Es ist nicht ihre Schuld... nicht nur. Sie
weiß einfach nicht, warum wir in letzter Zeit so viel Pech hatten.«
Jeod seufzte. »Vielleicht ist es ja mein Fehler, weil ich mich
nicht traue, es ihr zu sagen.«
»Ihr was zu sagen?«, meldete sich Nolfavrell
zu Wort.
»Dass ich ein Agent der Varden bin.« Jeod
hielt inne, als seine Besucher ihn perplex anstarrten. »Ich fange
am besten ganz von vorne an. Roran, hast du in den letzten Monaten
Gerüchte über einen neuen Drachenreiter gehört, der Galbatorix
herausfordert?«
»Hier und da ein bisschen Gerede, ja, aber
nichts, dem ich Glauben schenken würde.«
Jeod zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich es
dir beibringen soll, Roran... aber es gibt in Alagaësia wirklich
einen neuen Drachenreiter, und es ist dein Cousin Eragon. Der
Stein, den er im Buckel gefunden hat, war in Wirklichkeit ein
Drachenei, das die Varden mit meiner Hilfe vor vielen Jahren
Galbatorix gestohlen haben. Der Drache ist bei Eragon geschlüpft
und er hat ihn Saphira genannt. Deswegen kamen die Ra’zac das erste
Mal ins Palancar-Tal. Zurückgekehrt sind sie, weil Eragon für das
Imperium ein ernst zu nehmender Gegner geworden ist und Galbatorix
sich von deiner Gefangennahme erhofft, an ihn heranzukommen.«
Roran warf den Kopf zurück und lachte
schallend, bis ihm Tränen in die Augen stiegen und er vor lauter
Gelächter Bauchweh bekam. Loring, Birgit und Nolfavrell schauten
besorgt zu ihm herüber, doch Roran kümmerte nicht, was sie dachten.
Er lachte, weil Jeods Behauptung so absurd war. Und wegen der
erschreckenden Möglichkeit, dass der Händler die Wahrheit
sagte.
Roran atmete einige Male tief durch und
beruhigte sich allmählich wieder. Nur ein humorloses Kichern
entrang sich noch ein paarmal seiner Kehle. Er wischte sich mit dem
Ärmel übers Gesicht und sah Jeod an, ein hartes Lächeln auf den
Lippen. »Deine Geschichte passt zu den Fakten, so viel muss man dir
lassen. Aber mir fallen auch ein halbes Dutzend andere Erklärungen
ein.«
Birgit sagte: »Wenn Eragons Stein ein
Drachenei war, woher ist es dann gekommen?«
»Tja«, entgegnete Jeod, »das ist auch so
eine Geschichte...«
Bequem in seinen Sessel gelehnt, lauschte
Roran ungläubig, als Jeod erzählte, dass Brom - der grantige, alte
Brom! - einst ein Drachenreiter gewesen sei und angeblich bei der
Gründung der Varden mitgewirkt habe, dass Jeod einen geheimen
Eingang nach Urû’baen entdeckte habe, dass die Varden Galbatorix
die letzten drei Dracheneier hätten stehlen wollen und wie sie
letztlich nur ein Ei an sich gebracht hätten, nachdem Brom den
abtrünnigen Drachenreiter Morzan getötet hatte. Und als ob das
nicht schon lächerlich genug gewesen wäre, schilderte Jeod als
Nächstes, wie die Varden, Zwerge und Elfen vereinbart hätten, das
Ei zwischen Du Weldenvarden und dem Beor-Gebirge hin- und
herzutransportieren, und wie bei einer dieser Reisen am Rande des
riesigen Waldes ein Schatten die Kuriere überfallen habe, um ihnen
das Ei abzunehmen.
Ein Schatten -
ha!, dachte Roran.
Trotz seiner Skepsis wuchs Rorans Interesse,
als Jeod schilderte, wie Eragon das Ei fand und den Drachen,
Saphira, im Wald hinter Garrows Hof aufzog. Roran war zu der Zeit
sehr beschäftigt gewesen, weil er kurz darauf nach Therinsford
gegangen war, um in Demptons Mühle zu arbeiten, doch er erinnerte
sich, wie abwesend Eragon gewesen war und dass er jede freie Minute
im Wald verbracht hatte …
Als Jeod schilderte, wie und warum Garrow
gestorben war, stieg brennende Wut in Roran auf, weil Eragon es
gewagt hatte, den Drachen heimlich zu behalten, und damit jeden in
seiner Nähe in Gefahr gebracht hatte. Es
ist seine Schuld, dass mein Vater umgebracht wurde!
»Was hat er sich bloß dabei gedacht?«,
platzte es aus Roran heraus.
Er nahm es Jeod übel, dass er ihn so ruhig
und verständnisvoll ansah. »Ich bezweifle, dass Eragon gewusst hat,
was er tat. Reiter und ihre Drachen sind so eng miteinander
verbunden, dass man zwischen ihnen oft kaum unterscheiden kann.
Eragon hätte Saphira ebenso wenig etwas antun können, wie er sich
ein Bein hätte absägen können.«
»Das hätte er sehr wohl«, murmelte Roran.
»Seinetwegen musste ich Dinge tun, die genauso schmerzhaft waren...
Er hätte es uns sagen müssen!«
»Es ist dein gutes Recht, so zu denken«,
sagte Jeod. »Aber vergiss nicht: Eragon hat das Palancar-Tal
verlassen, um dich und das ganze Dorf zu schützen. Diese
Entscheidung ist ihm sehr schwer gefallen. Aus seiner Sicht hat er
sich geopfert, um deine Sicherheit zu gewährleisten und deinen
Vater zu rächen. Sein Verschwinden hatte zwar nicht den von ihm
gewünschten Effekt, aber wenn Eragon geblieben wäre, hätten sich
die Dinge wahrscheinlich noch viel schlimmer entwickelt.«
Roran sagte nichts mehr, bis Jeod den Grund
nannte, weshalb Brom und Eragon nach Teirm gekommen waren. Sie
hatten anhand der Einfuhrlisten herausfinden wollen, wo der
Unterschlupf der Ra’zac war. »Und, ist es ihnen gelungen?«, fragte
Roran aufgeregt.
»Ja, wir haben es herausgefunden.«
»Schön, und wo verstecken sich diese
Leichenschänder? Verdammt noch mal, spuck’s schon aus, Langhachse,
du weißt doch, wie wichtig es für mich ist!«
»Anhand der Aufzeichnungen sind wir zu dem
Schluss gelangt - und ich bekam später von den Varden eine
Botschaft, derzufolge Eragons Bericht dies bestätigt hat -, dass
die Ra’zac sich in der Nähe von Dras-Leona auf einem Berg namens
Helgrind verstecken.«
Grimmig packte Roran seinen
Hammer. Es ist ein langer Weg nach
Dras-Leona, aber von Teirm aus erreicht man den einzigen freien
Pass, der durch den Buckel in den Süden Alagaësias führt. Wenn ich
den Dorfbewohnern eine sichere Schiffspassage besorgen kann, könnte
ich zu diesem Berg gehen, Katrina befreien, falls sie dort ist, und
anschließend dem Jiet-Strom nach Surda folgen.
Rorans Miene musste seine Gedanken verraten
haben, denn Jeod sagte: »Das ist unmöglich, Roran.«
»Was ist unmöglich?«
»Niemand kann den Helgrind besteigen. Es ist
ein blanker schwarzer Berg mit nahezu senkrechten Steilhängen. Denk
daran, die Ra’zac haben Flugrösser! Wahrscheinlich liegt der
Unterschlupf der Kerle irgendwo am Gipfel und nicht am Fuße des
Berges, wo man sie leicht angreifen könnte. Wie willst du also
hinaufgelangen? Und selbst wenn es dir gelänge, glaubst du
wirklich, du könntest die Ra’zac und ihre Flugrösser besiegen? Ich
bezweifle ja nicht, dass du ein furchtloser Krieger bist - immerhin
fließt in dir und Eragon dasselbe Blut -, aber diese Gegner
besitzen übermenschliche Fähigkeiten.«
Roran schüttelte den Kopf. »Ich kann Katrina
nicht im Stich lassen. Vielleicht ist es vergebens, aber ich muss
versuchen, sie zu befreien, selbst wenn es mich das Leben
kostet.«
»Es nützt Katrina nichts, wenn du tot bist«,
ermahnte ihn Jeod. »Wenn ich dir einen Rat geben darf: Versuche,
wie geplant nach Surda zu gelangen. Wenn du einmal dort bist, wird
Eragon dir helfen. Selbst die Ra’zac sind einem Reiter und seinem
Drachen im offenen Kampf nicht ebenbürtig.«
Roran dachte an die riesigen, grauhäutigen
Ungetüme, auf denen die Ra’zac flogen. Er gestand es sich nur
ungern ein, aber gegen diese Geschöpfe konnte er nichts ausrichten,
wie sehr er es auch wünschte. Und als Roran diese Wahrheit
akzeptierte, schenkte er auch Jeods Geschichte Glauben - denn täte
er es nicht, wäre Katrina für ihn auf immer verloren gewesen.
Eragon, dachte er. Eragon! Ich schwöre auf das Grab meines Vaters, du wirst
wieder gutmachen, was du angerichtet hast, und zwar indem du mit
mir den Helgrind erstürmst! Du hast uns diesen Schlamassel
eingebrockt, und du wirst helfen, die Sache wieder in Ordnung zu
bringen.
Roran bedeutete Jeod weiterzureden. »Lass
uns den Rest deiner Geschichte hören.«
So erzählte Jeod von Broms Tod, von Murtagh,
Morzans Sohn, von der Gefangennahme und Flucht in Gil’ead, von der
hochdramatischen Rettung einer Elfe, von Urgals und Zwergen und
einer großen Schlacht an einem Ort namens Farthen Dûr, wo Eragon
einen Schatten besiegte. Und Jeod berichtete, dass die Varden aus
dem Beor-Gebirge nach Surda gezogen seien und dass Eragon sich im
Moment in Du Weldenvarden aufhalte und dort seine Ausbildung als
Drachenreiter abschließe, aber bald zurückkehren würde.
Als der Händler fertig war, steckten Roran
und die anderen die Köpfe zusammen und berieten sich. Loring sagte
mit gesenkter Stimme: »Ich weiß nicht, ob er lügt oder die Wahrheit
spricht, aber jemand, der sich mit einem Messer an der Kehle so ein
Seemannsgarn ausdenkt, verdient es, am Leben zu bleiben. Ein neuer
Drachenreiter! Und dann ist es auch noch Eragon!« Er schüttelte den
Kopf.
»Birgit?«, fragte Roran.
»Ich weiß nicht. Es klingt ungeheuerlich...«
Sie zögerte. »Aber es muss wahr sein. Ein neuer Drachenreiter wäre
der einzige Grund, warum das Imperium plötzlich so hinter uns her
ist.«
»Stimmt«, pflichtete Loring ihr bei. Seine
Augen glänzten vor Aufregung. »Wir sind in eine viel größere
Geschichte hineingeraten, als uns bewusst war. Ein neuer
Drachenreiter! Stellt es euch doch mal vor! Die herrschende Ordnung
steht kurz vor dem Umsturz, ich sage es euch... Du hattest von
Anfang an Recht, Roran.«
»Und was denkst du, Nolfavrell?«
Der Junge freute sich, dass man ihn mit
einbezog. Er biss sich auf die Lippe und sagte dann: »Jeod scheint
mir ein ehrlicher Mensch zu sein. Ich glaube, wir können ihm
vertrauen.«
»Na schön«, sagte Roran. Er ging zu Jeod
zurück, stützte sich auf die Schreibtischkante und sagte: »Zwei
letzte Fragen, Langhachse. Wie sehen Brom und Eragon aus? Und woher
kennst du Gertrudes Namen?«
»Ich weiß von Gertrude, weil Brom sagte, er
hätte bei ihr einen Brief für dich hinterlassen. Und was das
Aussehen der beiden betrifft: Brom war etwas kleiner als ich. Er
hatte einen langen Bart, eine Hakennase und lief immer mit einem
Stab herum. Und ich wage zu behaupten, dass er zuweilen leicht
reizbar war.« Roran nickte. Ja, das klang ganz nach Brom. »Eragon
war... jung. Braunes Haar, braune Augen, eine Narbe am Handgelenk,
und er hat einem Löcher in den Bauch gefragt.« Roran nickte erneut.
Das war sein Cousin.
Roran schob den Hammer unter den Gürtel.
Birgit, Loring und Nolfavrell steckten ihre Messer ein. Dann zog
Roran den Sessel von der Tür und die vier setzten sich wieder wie
zivilisierte Menschen hin. »Was ist nun, Jeod?«, fragte Roran.
»Kannst du uns helfen? Ich weiß, du steckst in einer schwierigen
Lage, aber wir... wir sind verzweifelt und können uns an niemand
anderen wenden. Kannst du als Agent der Varden uns ihren Schutz
garantieren? Wir sind bereit, uns ihnen anzuschließen, wenn sie uns
gegen Galbatorix beistehen.«
»Die Varden würden sich freuen, wenn ihr zu
ihnen stoßen würdet«, sagte Jeod. »Aber ich denke, das wisst ihr
ohnehin. Und was meine Hilfe betrifft...« Er strich sich über das
längliche Gesicht und starrte an Loring vorbei auf die Bücher in
den Wandregalen. »Ich weiß seit ungefähr einem Jahr, dass dem
Imperium meine wahre Identität bekannt ist - und auch die von
anderen Händlern, die den Varden geholfen haben. Deshalb habe ich
es nicht gewagt, nach Surda zu fliehen. Das Imperium würde mich auf
dem Weg dorthin gefangen nehmen, und wer weiß, welche Schrecken
mich dann erwarten würden. Ich musste mit ansehen, wie man nach und
nach mein Geschäft ruiniert hat, und konnte nichts dagegen tun. Und
da ich nun so gut wie alles verloren habe, fürchte ich, dass
Risthart, der Verwalter von Teirm, mich in den Kerker werfen und in
Ketten legen lässt, da ich dem Imperium nun nichts mehr nütze. Seit
meinem Bankrott rechne ich jeden Tag damit.«
»Vielleicht«, sagte Birgit, »wollen sie ja,
dass du fliehst, um auch die festnehmen zu können, die sich dir
anschließen.«
Jeod lächelte. »Vielleicht. Aber da ihr nun
hier seid, gibt es eine Fluchtmöglichkeit, mit der sie nicht
rechnen.«
»Dann hast du also einen Plan?«, fragte
Loring.
Jeods Züge erhellten sich. »Oh ja, ich habe
einen Plan. Habt ihr das große Schiff im Hafen gesehen,
die Drachenschwinge?«
»Ja«, sagte Roran,
»was ist damit?«
»Sie gehört der Schwarzmoor-Reederei, einem
Aushängeschild des Imperiums. Sie verschifft Güter für die Armee,
die unlängst in alarmierendem Maße mobilisiert wurde. Jeden Tag
werden unter den Bauern neue Soldaten rekrutiert und Pferde, Ochsen
und andere Lasttiere beschlagnahmt.« Jeod hob die Augenbrauen. »Ich
bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat, aber es könnte sein,
dass Galbatorix in Surda einmarschieren will. Wie auch immer -
die Drachenschwinge soll Ende
der Woche nach Feinster auslaufen. Sie ist das beste Schiff, das je
gebaut wurde, nach Plänen des berühmten Schiffbaumeisters
Kinnell.«
»Und du willst die Drachenschwinge stehlen«, schlussfolgerte
Roran.
»Genau. Nicht nur um dem Imperium eine lange
Nase zu zeigen oder weil sie das schnellste Schiff ihrer
Gewichtsklasse ist, sondern weil sie bereits voll ausgerüstet ist
für eine lange Reise. Und da ihre Fracht aus Lebensmitteln besteht,
hätten eure Leute genug zu essen.«
Loring gackerte leise. »Hoffentlich kannst
du sie segeln, Langhachse, denn von uns kann keiner mit einem
Schiff umgehen, das größer ist als eine Barke.«
»Ein paar Männer aus meinen früheren
Besatzungen sind noch in Teirm. Ihnen geht es wie mir, sie können
weder kämpfen noch fliehen. Ich vermute, sie werden sich die
Gelegenheit, nach Surda zu gelangen, nicht entgehen lassen. Sie
werden euch zeigen, was ihr an Bord zu tun habt. Es wird nicht
einfach werden, aber etwas anderes bleibt uns wohl nicht
übrig.«
Roran grinste. Der Plan war ganz nach seinem
Geschmack: Sie würden schnell, entschlossen und unerwartet
zuschlagen.
»Du hast gesagt«, warf Birgit ein, »im
vergangenen Jahr hätte keines deiner Schiffe sein Ziel erreicht -
und die der anderen Händler, die den Varden halfen, auch nicht.
Warum sollte es diesmal anders sein?«
Jeods Antwort kam postwendend: »Weil wir das
Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Das Gesetz schreibt
vor, dass man der Hafenbehörde mindestens zwei Wochen vor dem
Auslaufen eines Handelsschiffs die Reiseroute nennen muss. Deshalb
war bekannt, welchen Kurs meine Frachter nahmen. Außerdem dauert es
eine Weile, ein Kriegsschiff klarzumachen. Wenn wir also ohne
Vorwarnung verschwinden, könnte es eine Woche oder länger dauern,
bis Galbatorix uns Verfolger hinterherschickt. Wenn wir Glück
haben, bekommen wir von ihnen nur die Spitzen ihrer Maste zu sehen.
Also«, fügte Jeod an, »wenn ihr diesen dreisten Handstreich mit mir
wagen wollt, müssen wir Folgendes tun...«